Radfahren ist komplex - ADFC Bayern

Radfahren ist komplex

Verkehrspsychologin Dr. Susann Richter von der Technischen Universität Dresden erklärt im Interview, wie Kinder den Straßenverkehr wahrnehmen und wie Eltern Kinder am besten auf das Radfahren im Straßenverkehr vorbereiten.

Das Bild zeigt Dr. Susann Richter von der TU Dresden.
Verkehrspsychologin Dr. Susann Richter forscht und lehrt an der Technischen Universität Dresden zu den Themen Verkehrserziehung und Sicherheit von Kindern im Straßenverkehr. © TU Dresden

Wie unterscheiden sich die Wahrnehmung und das Denken von Kindern im Straßenverkehr von Erwachsenen?
Worin sich Erwachsene und Kinder zum Beispiel stark unterscheiden, ist die Aufmerksamkeit. Kinder lassen sich leicht ablenken und können ihre Aufmerksamkeit weniger gut auf Aspekte richten, die für den Straßenverkehr relevant sind, zum Beispiel beim Queren einer Straße.

Kinder nehmen kleine Ereignisse oder Aspekte wahr, die sie interessieren und für sie auffällig sind. Sie machen sich aber kein Gesamtbild von ihrer Umgebung und den Situationen. Sie nehmen wahr, was ihre Umgebung hergibt – und das sind nicht unbedingt Situationen und Ereignisse, die mit dem Straßenverkehr zu tun haben, wie der Spielplatz auf der anderen Straßenseite, ein bellender Hund oder ein bunter Lastwagen, der am Straßenrand parkt. Wenn man im Straßenverkehr unterwegs ist, muss die Wahrnehmung aber erwartungsgeleitet sein. Das heißt, man muss wissen, was kommen und wie sich eine Situation entwickeln kann. Dieses sogenannte Situationsbewusstsein müssen Kinder erst noch ausbilden.

Jüngere Kinder verbinden die Innenwelt auch stark mit der Außenwelt: Durch die Autoscheinwerfer hat das Auto zum Beispiel „Augen“, die je nach Form freundlich oder böse schauen können oder das Fahrrad wird zum wilden Pferd.

Wie wirkt sich die kindliche Wahrnehmung auf das Verhalten der Kinder im Straßenverkehr aus? Womit sollten Erwachsene rechnen?
Kinder sind impulsiver und reagieren auf bestimmte Reize sehr schnell. Wenn es aber um zielgerichtete, bewusste und überlegte Reaktionen geht, sind sie deutlich langsamer als Erwachsene. Wenn kleinere Kinder beispielsweise eine Lücke im Verkehr suchen, um eine Straße zu überqueren, würden sie kleinere Lücken zwischen zwei Autos wählen – das haben wir in Laborsituationen untersucht. Während ältere Kinder (ab ca. 9 Jahre) und Erwachsene eher in der Lage sind passende Lücken auszuwählen. Kleinere Kinder (bis ca. 5-6 Jahre) haben zum Beispiel die Vorstellung, dass große und laute Fahrzeuge bedrohlicher, schneller und gefährlicher sind, während kleinere und leisere Autos weniger gefährlich erscheinen. Das führt dann dazu, dass sie bei schnellfahrenden Autos, kleinere Lücken nutzen würden und sich damit sicherer fühlen.

Kinder handeln auch oft nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip: Wenn sie eine Straße überqueren wollen, warten sie lieber bis kein Fahrzeug kommt, statt zu entscheiden, ob das Auto langsam genug fährt oder weit genug weg ist. Dauert ihnen das zu lange, entscheiden sie, dass sie lange genug gewartet haben und gehen los. Da spielt auch die noch nicht gut ausgebildete Fähigkeit, eine einmal begonnene Handlung zu unterbrechen, eine Rolle. Das nennt sich Inhibitionskontrolle. Das müssen Eltern wissen und in solchen Situationen ihr Kind besonders im Blick haben.

Wie bereiten Eltern ihre Kinder am besten auf das Radfahren im Straßenverkehr vor?
Das Üben ist ein ganz wichtiger Aspekt im Straßenverkehr und vor allem auch beim Radfahren. Kinder müssen das Fahrrad gut beherrschen, das ist die Grundvoraussetzung. Sie sollten zeitig anfangen und das Fahrrad erstmal nur im Schonraum benutzen. Dort sollten sie Übungen machen, die für den Verkehr relevant sind: einhändig fahren, sich umdrehen, Informationen aufnehmen, abbremsen, ausweichen – das sind alles fahrerische Fähigkeiten, die Kinder können müssen.

Außerdem ist es wichtig, ihre Fähigkeiten als Fußgänger:innen im Straßenverkehr weiterzuentwickeln. Grundsätzlich sind alle Fähigkeiten, die Kinder zu Fuß aufbauen, auch fürs Radfahren wichtig. Nur, dass beim Radfahren dann alles viel schneller geht, Kinder viel schneller reagieren und auch effizienter Informationen aufnehmen und verarbeiten müssen.

Was muss ein Kind können, um im Straßenverkehr sicher mit dem Rad unterwegs zu sein?
Wenn das Fahrrad vom Spielzeug zum Fahrzeug wird, ist das ein großer Schritt. Der ist nicht einfach dadurch gemacht, dass Kinder im Straßenverkehr fahren. Fahrradfahren ist eine komplexe Angelegenheit. Wir haben in einer Studie für die Unfallforschung der Versicherer (UDV) zur Verkehrserziehung eine Tabelle zusammengestellt, wo wir 37 Kompetenzen aufgelistet haben, die im Straßenverkehr entwickelt werden müssen.

Von der auditiven und visuellen Wahrnehmung, über die Aufmerksamkeitslenkung bis hin zu motorischen Kompetenzen und kognitiven Verarbeitungsprozessen. Kinder müssen zum Beispiel eine räumliche Karte im Kopf haben: Wenn sie mit dem Rad von A nach B wollen, müssen sie wissen, wo sie Straßen kreuzen und wo sie abbiegen müssen. Sie müssen eine Vorstellung davon haben, wo sie sich selbst zu bewegen haben und wo es vielleicht gefährlich sein könnte.

Als Verkehrsteilnehmende müssen Kinder die Regeln verstehen und einhalten. Sie müssen relevante Informationen aufnehmen, sich aus verschiedenen Handlungsmöglichkeiten, die für die Situation passende Handlung auswählen, schnell ausführen und im Anschluss bewerten, ob die Handlung passend war – das sind oft unbewusste Prozesse. Außerdem müssen sie auch auf die Fehler anderer Verkehrsteilnehmer:innen reagieren können und entsprechend alternative Handlungsmöglichkeiten abrufen können. Das Antizipieren von Gefahren ist ein ganz wichtiger Aspekt – und das lässt sich üben.

Mit ungefähr sechs Jahren können sich Kinder mit dem Rad begleitet von einem Erwachsenen sicher im Straßenverkehr bewegen. Was können Kinder mit sechs Jahren noch nicht und worauf sollten sich Eltern entsprechend einstellen?
Kinder mit sechs sind noch keine selbstständigen Verkehrsteilnehmenden mit dem Rad. Für sie ist das Fahrrad ein Spielzeug, kein Verkehrsmittel. Deshalb müssen sie begleitet werden und auf dem Fußweg fahren. Oft haben Kinder in diesem Alter schon die wesentlichen motorischen Fähigkeiten, um Rad zu fahren. Sie können selbst aber noch nicht die relevanten Informationen wie Geschwindigkeit oder Abstände herausfiltern, um dann entsprechend zu handeln. Sie lassen sich auch noch leicht ablenken und sind dann nicht mehr in der Verkehrshandlung drin.

Kinder sind ab etwa zehn Jahren in der Lage, alleine im Straßenverkehr Rad zu fahren. Das hängt vom Kind sowie seiner körperlichen und geistigen Entwicklung ab. Wie können Eltern erkennen, ob ihr Kind bereit ist?
Das können Eltern nur feststellen, wenn sie mit ihrem Kind gemeinsam unterwegs sind. Sie müssen es genau beobachten und schauen, wie es sich in zunehmend schwieriger gestalteten Situationen verhält und entwickelt. Anfangs können sie mit ihrem Kind im Schonraum und dann zum Beispiel im Wohngebiet fahren.

Wenn die Eltern dann sehen, dass das Kind das gut meistert, kann man den Aktionskreis Stück für Stück vergrößern. Es hilft, wenn Eltern gemeinsam mit ihren Kindern die Wege auswerten und Fehler besprechen. Sie sollten auch darüber reden, welche Regeln eingehalten werden müssen und warum, und dann die Reaktionen der Kinder bewerten.

Auch mögliche Risiken und riskantes Verhalten sollten thematisiert werden. Gemeinsam können sie durchsprechen, an welchen Anzeichen man erkennen kann, dass eine Situation gefährlich werden könnte. Zum Beispiel, wenn die Bremslichter bei einem Auto aufleuchten oder dass man parkende Autos beobachten und vorsichtig vorbeifahren muss, falls sich die Autotür plötzlich öffnet. Oder auch, dass man die Sporttasche nicht ans Fahrrad hängen, nicht schnell irgendwo über die Straße fahren oder das Handy auf dem Fahrrad nicht benutzen sollte. Solche Risikosituationen sollten Eltern ansprechen, um mitzubekommen, wie ihr Kind dazu steht.

Ganz wichtig: Eltern müssen Kinder auch mal machen lassen. Auf bekannten Wegen zum Sportplatz oder Freibad können sie auch mal die Führung übernehmen. So bekommen die Eltern einen guten Eindruck, was ihr Kind schon kann und was sie ihm zutrauen können.

Viele Kinder lernen heute früh Radfahren und haben durch das Laufradfahren gute Vorkenntnisse. Worauf müssen Eltern achten, wenn sie mit einem Kita-Kind erste Wege im Straßenverkehr machen wollen?
Da bin ich zwiegespalten. Man darf nicht übersehen, dass Kinder im Kita-Alter noch keine eigenständigen Verkehrsteilnehmenden sind. Die Verantwortung haben die Eltern und die müssen immer gut eingreifen können. Ich bin nicht dafür, mit den ganz Kleinen an einer vielbefahrenen Straße mit dem Laufrad unterwegs zu sein.

Anders sieht es auf dem Spielplatz im geschützten Bereich aus. Da sollten Kinder auf jeden Fall so viel und so früh wie möglich üben. Es kommt aber auch darauf an, ob das Kind sich schon an Regeln halten kann. Zum Beispiel an der nächsten Bordsteinkante anhalten, dann gemeinsam schauen und darüber sprechen, warum man hier anhält und nach links und rechts guckt. So können Eltern einfache Wege für den Lernprozess nutzen.

Oft bringen Eltern ihre Kinder aus Angst lieber mit dem Auto von A nach B. Wie können Eltern hier Ängste abbauen?
Das Elterntaxi-Problem ist vielschichtig. Nicht alle Eltern, die ihr Kind mit dem Auto fahren, sind ängstlich und trauen ihnen den Weg nicht zu. Oft ist es auch eine Frage der Familienorganisation: morgens fahren Eltern ihr Kind zur Schule und dann weiter zur Arbeit. Nach Hause läuft das Kind dann möglicherweise alleine.

Ich bin dafür, Kindern möglichst viele Übungsmöglichkeiten zu geben. Der Schulweg ist ein Weg, der permanent gleich ist und den man gut als Lernmöglichkeit nutzen kann. Hinzukommen der gesundheitliche und der soziale Aspekt: Kinder bewegen sich auf ihrem Schulweg und können mit Freund:innen unterwegs sein. Das sollten Eltern ihren Kindern zugestehen.

Wenn es organisatorische Gründe hat, die Wege weit sind oder Eltern ängstlich, kann man Kinder auch zu einem in der Nähe der Schule gelegenen Parkplatz fahren und sie das letzte Stück alleine gehen lassen. Das fördert ihre Selbstständigkeit, und sie können sich auch mental auf die Schule einstellen. Idealerweise gibt es sogar Elternparkplätze oder man regt sie an, damit Eltern ihre Kinder gut und sicher ausladen können ohne andere Kinder zu gefährden.

Interview: Susann Hocke


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